In einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung analysiert Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, wie die Kunstfreiheit in einem globalen sowie nationalen Kulturkampf unter Druck gerät. Er plädiert für eine Rückbesinnung auf die Werte der Aufklärung und für eine entschiedene Verteidigung der Freiheit von Kunst, Sprache und Meinung.
Kulturstaatsminister Weimer: „Kultur und Sprache und Debatten sind Ermöglichungsräume, keine Verbotszonen.“
Wenn Kulturkämpfe ausgefochten werden, geht es selten um Kultur. Es geht um Macht. Verhandelt wird über Deutungsmacht, welche Ideen, Perspektiven, welche Kunst und Wissenschaft erwünscht ist und welche nicht. Es geht auch darum, wer wem etwas sagen und buchstäblich vorschreiben darf und wer nicht. Es geht um Freiheit und ihre Einschränkung.
Wir stecken derzeit mitten in einem solchen Kulturkampf. Zum einen hat er eine globale Dimension, da der Neo-Nationalismus in gleich vier Großmächten die politische Oberhand gewinnt. In China und Russland wird er diktatorisch ausgeprägt und brutal exekutiert – die Freiheit der Künste, der Medien, der Wissenschaft wird der Macht blutig untergeordnet und geopfert. In den USA und Indien wächst der Neo-Nationalismus zumindest in repressive Dimensionen, die die Räume des Diskurses verengen und vergiften. Der jüngste Angriff Donald Trumps auf die Harvard-Universität ist dazu ein Fanal.
Europa gerät in diesem globalen Kulturkampf in einen „defining moment“ seiner geistigen Integrität. Deutschland ist mittendrin. Bleiben wir die Hochburg der Aufklärung? Oder verfallen auch wir der identitätsideologischen Freiheitsfeindlichkeit von rechts und von links? Auch bei uns gibt es mittlerweile Übergriffe und bevormundende Identitätskämpfe von den Rändern des politischen Spektrums. Demgegenüber verliert die Mitte an Terrain. Und damit das kulturelle Kapital einer aufgeklärten Gesellschaft, deren geistiges Selbstverständnis traditionell von Offenheit, Vernunft und Toleranz geprägt war.
Die freiheitsfeindliche Übergriffigkeit der Linken hat in der Cancel Culture ihr aggressives Gesicht. Jüngstes Beispiel ist die Verbannung einer Venus-Bronze aus einer Berliner Behörde. Der Vorwurf: Frauenfeindlichkeit. Es ist nicht übertrieben, von einem Akt kulturferner Ignoranz zu sprechen, denn die Göttin der Liebe unbekleidet abzubilden, zählt immerhin zu den tradierten Topoi abendländischer Kunstgeschichte. Demgegenüber wirkt die simple Gleichung, weibliche Nacktheit sei per se sexistisch und habe in der Öffentlichkeit nichts zu suchen, wie das Credo eines jakobinischen Bildersturms. Sein modernes Pendant, der Shitstorm, gehört mittlerweile zum festen Inventar radikal-feministischer, postkolonialer, öko-sozialistischer Empörungskultur. Differenzierung ist keine Option mehr. Stigmatisierung umso mehr. Vom Comedian Dieter Nuhr über Harry-Potter-Schriftstellerin J.K. Rowling können viele Kreative davon ein Lied singen, wie auch viele Podcaster wissen, dass sie je nachdem, welchen Gesprächspartner sie sich in die Sendung laden, in den Kommentarspalten entweder dem Faschismus den Weg bereit oder sich im Vorhof grüner Höllenideologie befinden.
Die großen Tech-Konzerne mit ihren darauf ausgelegten Algorithmen sind hier wesentliche Treiber für diese mediale Hyper-Empörung.
In einem gesellschaftlichen Klima, dessen Taktung von linkem Alarmismus vorangetrieben wird, scheint vorauseilender Gehorsam, Bevormundung und Sprachwächtertum die ultimata ratio zu sein.
Aber auch die rechten und rechtsradikalen bis rechtsextremen Kulturkampfreflexe lassen nichts an Engstirnigkeit vermissen. Ihren Tilgungsfuror kann man zurzeit in der zweiten Trump-Ära besichtigen: Eine Lehrerin, die ihren Schülern den unbekleideten David von Michelangelo gezeigt hatte, wurde von Polizisten abgeführt und anschließend gefeuert. Der groteske Vorwurf: Sie habe ihren Schülern Pornografisches aufgedrängt. An Floridas Schulen landeten bereits im vergangenen Jahr fast 4000 Bücher auf dem Index, weil sie angeblich unzumutbare Darstellungen von Gewalt und sexuellen Inhalten enthielten. Selbst Weltliteratur wie Tolstois Anna Karenina kam in den Giftschrank.
Dass eine gewisse Prüderie in den Beispielen mitschwingt, ist kein Zufall. Wenn politische Pädagogik qua künstlerischer Kontrolle betrieben wird, hat das immer auch eine moralische Dimension: Ideologien inszenieren sich gern als ethische Instanzen. Da wird zwischen Gut und Böse unterschieden, idealisiert und dämonisiert. Wer allerdings ästhetische Kategorien mit moralischen Postulaten verwechselt und alles Abweichende verbietet, muss sich vorwerfen lassen, das Tafelsilber abendländischer Aufklärung wegzuschließen: die Freiheit.
Die jüngsten rigiden Eingriffe in die Sichtbarkeit künstlerischen Schaffens lassen daher nur einen Schluss zu: Sowohl linke als auch rechte Eiferer trauen weder der Freiheit der Kultur noch der Kompetenz des Bürgers, sich in aller Freiheit ein eigenes Urteil zu bilden.
Eine fatale Unterstellung. Linke wie Rechte wollen die Kunst politisieren, haben sich aber ein denkbar ungeeignetes Objekt ausgesucht. Es liegt gerade im Wesen der Kunst, Freiheit zu atmen und gerne vieldeutig zu bleiben. Wer die Kultur als eine Art NGO für politische Belehrung oder als Agent politischer Botschaften nutzen will, wandelt nahe am Missbräuchlichen entlang. Es war Susan Sontag, die mit ihrem Essay „Against interpretation“ ein flammendes Plädoyer für die Bedeutungsoffenheit von Kunst verfasste. Diese müsse keineswegs eindeutige Inhalte und Botschaften transportieren; vielmehr sei es das Privileg künstlerischen Schaffens, auf dechiffrierbare Bedeutungen zu verzichten.
Und wer Kunst ihre Ambiguität nimmt, dem Anspruch zu improvisieren, macht sie flügellahm und hat die Kunstfreiheit nicht begriffen.
Interessanterweise wird diese Einschätzung von der gesellschaftlichen Mitte geteilt. Namentlich von jenem – gerne unterschätzten - Bürgertum, das in seiner Breite dafür sorgt, dass unsere Theater voll, unsere Museen bestens frequentiert und unsere Konzerthallen gut gefüllt sind. Es ist eine kulturaffine Klientel, die sich keineswegs auf Tradiertes beschränkt, sondern offen für Neues ist, für Experimente, selbst für Gewöhnungsbedürftiges wie Sado-Maso-Exzesse auf Theaterbühnen. Man urteilt nicht ab, man bildet sich ein eigenes Urteil. Das ist ein großer Unterschied.
Demgegenüber erscheint es anmaßend, dass nun ausgerechnet staatliche Institutionen wie Behörden und Universitäten über die Legitimität einzelner Werke entscheiden. Wenn die Künste im Namen eines neuen Tugendterrors kanonisiert werden, gängelt man ja nicht nur die Künstler, vor allem bevormundet man die Adressaten. Mündige Bürger, so sollte man meinen, sind in der Lage, künstlerische Artefakte historisch zu kontextualisieren oder schlicht als individuelle ästhetische Ausdrucksformen wahrzunehmen. Wird den Bürgern diese Fähigkeit abgesprochen, indem man ihnen den Zugang verwehrt, handelt es sich um Entmündigung, wenn nicht Enteignung: Man stigmatisiert und eliminiert, was das Urteilsvermögen vermeintlich überfordert.
Ähnlich verhält es sich mit den Versuchen linker Couleur, schuldbeladene Geschichte einfach umzuschreiben. Von weglektorierten Begriffen für indigene Völker bis zur Frage, ob man die Romane Karl Mays überhaupt noch drucken sollte, handelt es sich um eine beeindruckende Verdrängungsleistung: Weil nicht sein durfte, was heute nicht mehr sein darf, werden Zeugnisse falschen Bewusstseins kurzerhand den Furien des Verschwindens übergeben.
Umgekehrt verfährt Donald Trump. Seine aktuelle Attacke auf amerikanische Museen – namentlich jene der Smithsonian Institution -, die Geschichte von God’s own country werde zu negativ dargestellt und müsse künftig heroischer rüberkommen, ist die rechte Variante der historischen Begradigungsversuche.
Das neue Faible für Reinheitsgebote übersieht jedoch etwas Wesentliches: Es macht weder die Kunst besser noch die Menschen. Verlage können noch so viele Sensivity Reader beschäftigen, die unveröffentlichte Manuskripte nach shitstormverdächtigen Wörtern und Inhalten durchforsten, Museen können noch so viele Werke in vorauseilendem Zeitgeistgehorsam aus den öffentlichen Bereichen entfernen – die Dialektik von Aufklärung und Gegenaufklärung wird immer zu Pendelausschlägen in die entgegengesetzte Richtung führen. Das flächendeckend politisch erwünschte Mindset mag eine gutgemeinte Erlösungsfantasie sein, mit der Realität gesellschaftlicher Dynamiken hat sie wenig zu tun.
Die liberale Antwort auf diese Entwicklung lautet, keinen politischen Einfluss nehmen, sondern, ganz im Gegenteil, die Freiheit der Kunst zu verteidigen. Die Korridore der Sagbaren, Erkundbaren und Darstellbaren möglichst weiten, anstatt ihn zu verengen. Glücklicherweise hat die Kunst eine defensive Kraft. Nach wie vor entsteht Kunst auf dem Resonanzboden einer vielfältigen Gesellschaft mit unzähligen mentalen Strömungen und schert sich nicht um Vorgaben, Vereinnahmungen oder Verbote. Gerade deshalb muss sie gefördert werden. Aber eben nicht als politische Echokammer oder Bootcamp des vermeintlich besseren Bewusstseins. Egal ob von links oder rechts. Der Staat kann daher als Mäzen auftreten, sollte sich aber inhaltlicher Einmischung enthalten. Er degradiert ansonsten die Künste zur Platzanweiserin der jeweiligen politischen Korrektheit.
Der „Reason why“ der neuen Bundesregierung lässt sich in seiner sozialen, politischen und wirtschaftlichen, aber eben auch in einer kulturellen Dimension auf die zentrale Programmatik fokussieren, dass wir die Mitte stark machen müssen, weil wir sie sonst an die Ränder verlieren. Wenn linke und rechte Bilderstürme die Freiheitsräume verengen wollen, sollten wir sie weiten. Kultur und Sprache und Debatten sind Ermöglichungsräume, keine Verbotszonen. „Das Kunstwerk ist eine Erklärung der Freiheit“, stellte Oskar Schlemmer fest und setzte prophetisch hinzu: „Nie zuvor war für die Menschheit etwas so schwer zu ertragen wie die Freiheit.“ Es ist an der Zeit, diese Freiheit zu weiten – und unser Europa und seine Aufklärung leuchten zu lassen. Denn auch in Washington, Delhi, Peking und Moskau schauen viele genau darauf wie auf ein Licht der Hoffnung.
Der Gastbeitrag von Kulturstaatsminister Wolfram Weimer erschien am 4. Juni 2025 in der Süddeutschen Zeitung.