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Kulturstaatsministerin Roth anlässlich der Konferenz “What’s the Point of History … If We Never Learn?"

Thema: Im Wortlaut

Montag, 16. Oktober 2023

Auf der Konferenz im Berliner Humboldt Forum erinnerte Kulturstaatsministerin Roth daran, dass Demokratie, Meinungsfreiheit, Toleranz und die Akzeptanz der Rechte von Minderheiten alles andere als selbstverständlich seien. Angesichts dessen sei der internationale Austausch über die Grundlagen und die künftige Ausgestaltung einer auf gemeinsamen Werten beruhenden Erinnerungskultur unverzichtbar, so die Kulturstaatsministerin.

– Es gilt das gesprochene Wort. –

Vor neunzig Jahren, im Spätsommer 1933 erschien bei Querido in Amsterdam die deutsche und bei Gallimard in Paris parallel die französische Ausgabe eines Essays von Heinrich Mann mit dem Titel: „Der Haß“, Untertitel: „Deutsche Zeitgeschichte“. Es war zum einen die Abrechnung des ins französische Exil geflüchteten Schriftstellers mit den neuen Machthabern in Deutschland. Zum anderen war es literarische Prophetie. Früher als andere erkannte Heinrich Mann, was da 1933 in Deutschland die Macht übernommen hatte – der Hass; und klarer als andere sah er voraus, was daraus folgen würde: Krieg. „Denn Krieg“, schrieb Heinrich Mann, „Krieg ist eigentlich, sobald eine rücksichtslos nationalistische Herrschaft sich irgendwo einrichtet.“

An den zu Unrecht fast vergessenen Essay Heinrich Manns muss ich in diesen Tagen, in diesen Zeiten immer öfter denken, in denen Nationalismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, in denen aggressive Intoleranz und Ausgrenzung, Hass und Hetze - mit anderen Worten: die Inhumanität in immer mehr Ländern die Herrschaft erobert und „sich eingerichtet hat“.

Die grauenhaften Massaker der Hamas an Frauen, Kindern, Männern in Israel; die entgrenzte Gewalt gegen Menschen, weil sie Jüdinnen und Juden sind, erfüllen mich mit tiefer Trauer und Schmerz. Der Terror in Israel und der verbrecherische Überfall Putins auf die Ukraine sind die jüngsten, fürchterlichen Bestätigungen von Heinrich Manns Befund. Der Angriffskrieg Russlands verursacht nicht nur unermessliches menschliches Leid, er ist auch ein gezielter Krieg gegen die Kultur des Landes. Die geschichtliche und kulturelle Identität der Ukrainerinnen und Ukrainer soll ausgelöscht werden, um ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt und ihre Widerstandskraft zu zerstören. Deshalb werden historische Gebäude, Denkmäler und Ausgrabungsstätten angegriffen, Museen geplündert, Bibliotheken und Archive zerstört, Kunstschätze geraubt. Damit soll nicht nur das historische Gedächtnis der Ukraine ausgelöscht werden, nicht weniger auch die Erinnerungen der Russinnen und Russen an die Schnittstellen der russischen und der ukrainischen Kultur. Nach Marcel Proust sind gemeinsame Erinnerungen „die besten Friedensstifter“. Ein gewichtiger Grund für Putin und anderen Despoten, sie zu bekämpfen. „Friedensstifter“ sind die natürlichen Feinde der Despotie. Deshalb stehen wir als Demokratinnen und Dmeokraten an der Seite der Ukrainerinnen und der Ukrainer und aller, die von der Vernichtung ihrer kulturellen Identität bedroht sind. Denn wir sind die natürlichen Verbündeten der „Friedensstifter“.

Es ist für uns heute selbstverständlich, in demokratischen Gesellschaften zu leben und uns auf Rechtsstaatlichkeit verlassen zu können – die meisten von uns kennen es nicht mehr anders! Und gerade darin liegt eine Gefahr; denn Demokratie, Meinungsfreiheit, Toleranz und die Akzeptanz der Rechte von Minderheiten sind alles andere als selbstverständlich. Nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit beobachten wir antidemokratische Tendenzen und die Verbreitung nationalistischer Ideologien. Es ist offensichtlich: Die Demokratie steht unter Druck und wird bedroht. Und die Demokratie ist nicht immun. Dieser Grundpfeiler unserer freiheitlichen Lebensweise, die freiheitliche Verfasstheit Europas muss bewahrt und geschützt werden. Gerade der Blick auf die deutsche Geschichte des vorigen Jahrhunderts macht deutlich, was geschieht, wenn Nationalismus und Intoleranz triumphieren. Wie können die Erfahrungen von Nationalismen, totalitären Ideologien, Kriegen und Diktaturen genutzt werden, um Frieden und gemeinsame Verantwortung für künftige Generationen zu stärken? Die Antwort darauf kann nur lauten: Der internationale Austausch über die Grundlagen und über die künftige Ausgestaltung einer auf gemeinsamen Werten beruhenden Erinnerungskultur ist für uns alle unverzichtbar.

Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität hat sich zum Ziel gesetzt, „im freundschaftlichen Geist ...die Geschichte der europäischen Nationen miteinander (zu) verbinden, um zu einer europäischen Erinnerungskultur beizutragen“. Das ist heute wichtiger denn je. Mit der Globalisierung und mit der Zuwanderung von Menschen mit unterschiedlichen weltanschaulichen, kulturellen und politischen Hintergründen nach Europa verändern sich auch die Gesellschaften Europas. Deutschland und seine europäischen Nachbarn sind vielfältiger geworden, Diversität wird mehr und mehr zu einem strukturellen Merkmal. Aber: Wie lässt sich in einem sich derart verändernden Umfeld die Vergangenheit Europas vermitteln? Wie lassen sich Menschen erreichen, die vielleicht selbst gerade erst vor Krieg und Verfolgung hierher geflohen sind? Ich begrüße es sehr, dass die heutige Veranstaltung dem Thema „Migrationsgesellschaften und ‚Europäisches Gedenken‘“ einen eigenen Schwerpunkt widmet. Das ist eine echte Herausforderung für die Zukunft, und es ist wichtig, dass Sie dazu neue Ideen entwickeln.

Auf dem Programm der jetzt beginnenden Veranstaltung steht auch das Panel: „Nationale Interessen und transnationale Solidarität. Erinnerung – Umgang mit kontroversen Themen und Akteur/innen“ – ich bin sehr gespannt, auf die Ergebnisse.

Wenn ich von „europäischem Erinnern“ spreche, dann meine ich kein normiertes, kein vereinheitlichtes Wissen und sicher kein europäisches Schulbuch. Das Ziel kann auch nicht die Herstellung eines vereinheitlichten Geschichtsbildes sein. Es geht um das Respektieren und das Verstehen des Anderen, um das Einbeziehen seiner Perspektive auf die Vergangenheit und die Zukunft. Es geht also um die Erweiterung des eigenen Horizonts um die Sichtweisen des Nachbarn. In diesem Sinn kann das „europäische Erinnern“ bei der Gestaltung des „gemeinsamen Europa“ einen wichtigen Beitrag leisten. Dafür ist die Arbeit des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität mit seinem Einsatz für eine zukunftsgerichtete Verständigung über die Vergangenheit in Europa essentiell. Sein Ziel ist, die Menschen in Europa näher zu bringen. Es gibt kein besseres. Auf unsere Unterstützung können Sie selbstverständlich auch in Zukunft zählen.

Für Ihre Tagung wünsche ich Ihnen viel Erfolg – eine so wichtige Tagung des Erinnerns in die Zukunft.

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