– Es gilt das gesprochene Wort –
Kunst gibt keine Antworten, sie stellt Fragen. Das mag ein Gemeinplatz sein, aber es scheint mir doch eine Erfahrung zu sein, die viele teilen. Wir gehen in Ausstellungen und Museen, weil wir die Werke einer Künstlerin oder eines Künstlers sehen wollen. Wir versprechen uns Anregung und Impulse, eine Reaktion auf die Welt, in der wir leben, suchen nach Spuren und Deutungen, nach einer Vermittlung von Vergangenem und Gegenwärtigem. Ausstellungsräume, wie das Bucerius Kunst Forum, das wir heute feiern, nehmen Einfluss, sie setzen Impulse, greifen ein in die Auseinandersetzung mit einer immer vielfältigeren Welt, einer immer größeren Dichte an Themen, Krisen und Konflikten; einer Welt, deren Radius sich immer weiter ausdehnt und die doch immer dichter an uns herantritt.
Museen, Ausstellungsorte und Kultureinrichtungen sind gesellschaftliche Akteure. Und der Raum, den sie unserer Auseinandersetzung bieten, wird immer wichtiger – für den Diskurs, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und damit auch für die Demokratie – für die Kultur der Demokratie. Ich finde es beispielsweise großartig, dass Sie in einer Zeit, in der Journalistinnen und Journalisten – und damit auch die Pressefreiheit an sich - angegriffen werden, Zeichen setzen. Kultur der Demokratie in einer Zeit, in der der brutale Angriffskrieg Putins in der Ukraine nicht nur tausende Menschenleben fordert, nicht nur Millionen Menschen ihre Heimat raubt, sondern auch ein Propagandakrieg ist, auch ein Krieg gegen die Kultur. Mein ukrainischer Kollege hat mir erst kürzlich erzählt, wie Kultureinrichtungen systematisch angegriffen werden – mit dem Ziel, die kulturelle Identität der Ukraine auszulöschen. Als ich in Odessa war, ist mir noch klarer geworden, welche Bedeutung Kunst und Kultur für eine Demokratie haben. Das ist die Stimme, der Sound der Demokratie.
Das macht Ausstellungsräume wie das Bucerius Kunst Forum bedeutend. Für Kulturpolitikerinnen, mehr noch für Kulturstaatsministerinnen sind solche Ausstellungsräume, die privates gemeinnütziges Engagement mit anhaltendem Erfolg verbinden, deshalb – selbstverständlich - eine reine Freude. Hamburg ist reich an Stifterinnen und Stiftern sowie Förderinnen und Förderern von Kunst, Kultur und sozialen Einrichtungen. Und ihr Engagement beweist nebenbei, dass „reich“ nicht zwangsläufig „unsexy“ bedeuten muss. Die anwesenden Berlinerinnen und Berliner werden das verkraften.
Über diese Art vom Reichtum kann sich jedes Land, jede Stadt und jede Gemeinde nur freuen. Denn Kulturpolitik kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn sie gesamtgesellschaftlich angegangen wird, wenn Teilhabe an und Zugang zu Kultur staatlich und nichtstaatlich ermöglicht werden. Und die Kultur der Demokratie ist im besonderen Maße darauf angewiesen, auf Einmischung, auf Partizipation und Mitwirkung. Ich freue mich wirklich sehr, dem Bucerius Kunst Forum zu seinem 20-jährigen Bestehen gratulieren zu können. Vor allem aber will ich der Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius danken, für zwei Jahrzehnte ihres Engagements. Mit Ihrer Hilfe ist das Bucerius Kunst Forum zu einem Ausstellungsort geworden, dessen Bedeutung nach nur zwei Jahrzehnten unbestritten ist. Zu verdanken hat es das seiner klugen Führung und seinen kreativen Kurator:innen. Und mit einer ebenso klugen Besetzung geht es auch ins dritte Jahrzehnt. Das ist das größte Geschenk zum Jubiläum. Und es ist, wie alles andere hier auch, selbstgemacht.
Doch noch dazu wird uns ein Geschenk gemacht: Lee Miller eröffnet ein Jubiläumsjahr, in dem das Bucerius Kunst Forum ausschließlich Kunst von Frauen zeigen wird. Das ist ein wichtiges Signal. Gerade in Kunst und Kultur sind gleiche Zugänge, gleiche Teilhabe und gleiche Bezahlung von Frauen noch lange nicht selbstverständlich. Dieser Fokus ist für sich genommen schon eine starke Entscheidung. Lee Miller ist noch dazu die Entscheidung für eine ungemein couragierte Künstlerin des 20. Jahrhunderts. Lee Miller ist unübersehbar eine Frau. Sie ist es in ihrer Person, in ihrer Kunst, in ihrem Leben, in ihrer Zeit. Und doch finde ich die Frage schwer zu beantworten, was ihr selbst dieses Frausein in den sieben Jahrzehnten zwischen 1907 und 1977 bedeutet hat. Ihre Lebenszeit ist geprägt von Konventionen und ebenso von dem erklärten Willen, sie zu brechen. Doch wer die Fotografien der 19jährigen als Modell der amerikanischen Vogue sieht, kann sich auch fragen, ob diese Frage sie überhaupt beschäftigt hat.
Keine Konvention, die zu ihrer Zeit mit diesem Frausein verbunden war, hätte sie je von etwas abgehalten: „She went for it, whatever it was“, sagt ihre Biografin Carolin Burke. Und sie tat das mit einer Selbstverständlichkeit, die voraussetzt, dass sie es als Selbstverständlichkeit ansah, als Lee Miller tun zu können, was sie wollte, also zweifelsohne auch alles, was Männer taten. Sie hinterließ selbst als Model nie den Eindruck nur Objekt der Darstellung zu sein. Sie scheint immer beides – Subjekt und Objekt – zu vereinen. Sind die Fotografien, die in dieser Zeit von ihr entstehen, sind ihre Haltung, ihr Blick, nicht ebenso neu, wie die Fotografien, die sie später in New York und Paris, von sich und anderen machen wird?
Selbstverständlich sind der Einfluss und die Anleitung der Surrealisten in den Fotografien Lee Millers erkennbar: Man Ray, mit dem sie ein Verhältnis eingeht, oder Max Ernst. Aber alles ist ebenso erkennbar von Lee Miller herself. Sie prägt ihr Werk, nicht andere. Sie ist in allem, was sie in ihrem Leben tat, sie selbst. Sie ist es, die sich als Kriegsreporterin für die amerikanische Vogue 1944 den vorrückenden Alliierten in Europa anschließt. Sie fotografiert den ersten Napalm-Angriff der Kriegsgeschichte in St-Malo, die Befreiung von Paris aber auch die von Dachau und Buchenwald. Sie beginnt zu schreiben, weil sie es als Reporterin muss. Und es gelingt ihr auch das.
Vor allem aber bringt sie ihre Fotografien zum Sprechen. Diese Bilder von Opfern und von Tätern sind wahrhaftig bis zur Schmerzgrenze und zeigen doch ebenso ihren Blick, ihre Perspektive, ihr Motiv, das Bild Lee Millers. Ein Bild, das wie ein guter Text, von sich erzählt, für sich spricht. Für uns, für dieses Land sind sie von enormer Bedeutung. Was Lee Miller zeigt, finden wir in keinem anderen Bild dieser Zeit. Sie stellt die eine, alles überragende Frage: Warum? Sie stellt sie uns. Wer versucht sie zu beantworten, wird die Vergangenheit befragen müssen. Und er wird versuchen müssen, nicht an der Gegenwart zu verzweifeln. Das Bild, das sie am Ende bekannt machen wird, zeigt sie selbst: Lee Miller in Adolf Hitlers Badewanne. Auf dem schmutzigen Badevorleger davor: die Stiefel, die sie Stunden zuvor noch in Dachau getragen hat. Am Ende misslingt ihr die Rückkehr in ein Leben nach dem Krieg. Kein seltenes Phänomen: Niemand geht unversehrt aus einem Krieg in den Ruhestand, in ein beschauliches Leben auf dem Land, in die englische Provinz. Lee Miller packt die Arbeit ihres Lebens in Kisten und Kartons, um sie auf dem Dachboden ihres Hauses dem Zufall zu überlassen. In der letzten Phase ihres Lebens ist sie eine passionierte Köchin. Auch das holt sie aus sich selbst heraus, à la Miller.
Dass die Frau ihres Sohnes, Antony Penrose, die Kisten mit Fotos und Texten nach Lee Millers Tod 1977 wiederentdeckte, ist unser Glück. Dear Mister Penrose, „when I grew up I knew virtually nothing about my mom‘s past achievements. It was a book that she had closed“, you said in documentary about your mother. That we got to know her, we owe mainly to you. Wenn die Kunst uns, wie ich glaube, Fragen stellen will, dann sind die Fotografien von Lee Miller große Kunst. Ich habe noch viele Fragen. Es sind Fragen, wie man sie in Museen und Ausstellungen stellt. Fragen, die Museen und Ausstellungshäuser wie das Bucerius Kunst Forum zu so unverzichtbaren Orten machen. Lieber Herr Hartung, liebe Frau Baumstark, liebe Frau Gimmi, lieber Herr Penrose, vielen Dank für diesen Ort und für diese Ausstellung!