Bahide Arslan wäre heute 81 Jahre alt. Was würde sie über das Land denken, in das sie vor 55 Jahren kam? Was würde sie sagen, eine starke, selbstbestimmte Frau, hätten Rassisten und rechtsextreme Brandstifter nicht ihr Haus angezündet, wäre sie nicht in den Flammen umgekommen, zusammen mit ihrer vierzehnjährigen Nichte Ayşe und ihrer zehnjährigen Enkelin Yeliz? Heute vor dreißig Jahren.
Was dachte Bahide Arslan nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen? Was hätte sie empfunden, wüsste sie von Solingen und Hanau oder von der tödlichen Bilanz des NSU? Zehn Morde, 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle in sieben Jahren? Was hielte sie von sogenannten „Döner-Morden“ und einer Sonderermittlungskommission mit dem Namen „Bosporus“?
Ich empfinde tiefen Schmerz, wenn ich daran denke, was hier vor dreißig Jahren geschah – aber mehr noch Scham. Scham über die Menschenfeindlichkeit und Scham über die Gleichgültigkeit, mit der darüber hinweggegangen wurde, über den Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen – falsche Beschuldigungen, fehlende Anteilnahme, Verdächtigungen und Verdrängung. Es sind offene Wunden, auch 30 Jahre danach. Der Schmerz der Familie muss auch unser aller Schmerz sein.
„Das Erinnern erkämpfen“ – Unter diesem Motto hat sich İbrahim Arslan deshalb vor zehn Jahren auf den Weg gemacht. Ibrahim Arslan, der als kleiner Junge die Flammen überlebte, kämpft seitdem für eine andere Kultur des Gedenkens und Erinnerns in Deutschland. Sie soll die Angehörigen rassistischer Morde und Anschläge einbeziehen und gegen das Vergessen kämpfen.
Erst im Frühjahr war ich hier in Mölln, habe die Ausstellung des Vereins „Miteinander leben“ besucht und mit ihm darüber gesprochen. Wir waren uns sehr einig: Das Leid der Opfer und ihrer Hinterbliebenen findet bis heute viel zu wenig öffentliche Beachtung. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass das Verbrechen von Mölln Teil unserer gemeinsamen Erinnerungskultur wird. Wir werden die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel deutscher Gegenwart wachhalten. Dazu gehören Orte des Gedenkens, dazu gehören aber auch wissenschaftliche Einrichtungen zur Dokumentation und Aufarbeitung des rassistisch motivierten Rechtsterrorismus in unserem Land.
Denn Mölln, Hoyerswerda, Rostock, Solingen, der Terror des NSU, der Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, die Anschläge von Halle und Hanau – es sind keine Einzelfälle. Das ist eine lange Spur rassistischen, rechtsextremistischen Terrors in Deutschland. Und immer wieder, nach jedem dieser Einzelfälle, sagen wir: So etwas darf nie wieder geschehen. Aber: Es geschieht wieder. Das heißt für uns: Wir müssen mehr dagegen tun.
Wir müssen mehr tun gegen Rechtsextremismus, gegen rassistische Ressentiments und gegen Menschenfeindlichkeit. Und: Wir müssen aber auch mehr tun gegen das Verdrängen und Vergessen. Es darf nicht sein, dass sich Opfer und Angehörige das Erinnern und das Nicht-Vergessen erst erkämpfen müssen, wie es Ibrahim Arslan getan hat. Wir sind als demokratische Gesellschaft in der Pflicht: Gegen das Verdrängen und gegen das Vergessen einzutreten.
Wir brauchen dabei einen Perspektivenwechsel, hin zu den Opfern und Betroffenen. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Verletzungen gilt es wahrzunehmen und stärker als bisher ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Denn ihre Geschichten sind es, die uns alle direkt in die Verantwortung nehmen. Die Verbrechen konnten in unserer demokratischen Gesellschaft, gleichsam unter unseren Augen, geschehen. Wenn wir diese Erinnerungsarbeit gemeinsam und als Gesellschaft mit den Opfern und Angehörigen leisten, dann dient das weit mehr als nur der Trauer und Trauerbewältigung. Es ist eine Mahnung, eine Mahnung zur Solidarität, gegen Menschenfeindlichkeit und für Veränderungen hin zu einer Gesellschaft, in der alle Menschen frei und ohne Angst leben können.