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25-jähriges Bestehen des Mendelssohn-Hauses

Thema: Rede

Montag, 31. Oktober 2022

Die Geschichte Felix Mendelssohn Bartholdys und seiner Rezeption mahne uns, gegen alle Formen der Herabwürdigung und Diffamierung von Menschen und ihrer Kunst aus völkischem und antijüdischem Ressentiment vorzugehen, sagte Claudia Roth beim Festkonzert anlässlich des Jubiläums in Leipzig. „Denn es ist an uns, zu verhindern, dass Antisemitismus seine Wirkung entfalten kann“, so die Staatsministerin.

Leipzig ist eine Musikhauptstadt. Bach, Mendelssohn, Schumann, Wagner – das Gewandhausorchester – sie und nicht nur sie stehen mit ihren Namen und ihrer Musik für diesen Anspruch. Und doch beginnt meine Geschichte in Berlin. Ich erzähle sie, obwohl sie nur zu Teilen verbürgt ist, weil sie schön ist und liebenswert, und weil sie Felix Mendelssohn Bartholdy feiert, also genau das tut, was wir heute alle tun wollen: Ihn und seine Musik feiern, feiern, was er für uns getan hat und für das Musikleben dieses Landes und dieser Stadt. 

Die Geschichte, die ich erzählen will, hat sich in Berlin zugetragen, weil dort Mendelssohns Großmutter Fromet lebte, die ihrem 16-jährigen Enkel Felix 1825 eine Abschrift der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs schenkte. Carl Friedrich Zelter, der Leiter der Berliner Sing-Akademie, so will es die Legende, soll die losen Blätter der Partitur zuvor in einer Berliner Käsehandlung entdeckt haben, wo man sie zum Einpacken der Butter verwendet hatte. Die Musikwissenschaft hat berechtigte Zweifel an dieser Arabeske, aber sie erfüllt doch ihren Zweck. Sie macht die Fallhöhe der Geschichte deutlich, die Bedeutung des Fundes und der Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs, an der Mendelssohn erheblichen Anteil hatte. Bach, den wir heute so selbstverständlich zum deutschen Beitrag am Weltkulturerbe zählen und an den wir uns ohne Mendelssohns Wiederaufführung der Matthäus-Passion vielleicht nicht mehr erinnern würden.

Dass Felix Mendelssohn Bartoldy eine unauslöschliche Spur in der deutschen Musikgeschichte hinterlassen hat, ließe sich allein mit dieser Geschichte belegen. Die Leipziger Notenspur, der 5,3 km lange Weg, der heute die Wirkungsstätten Johann Sebastian Bachs mit dem Gewandhaus, dem Standort des alten Leipziger Konservatoriums, dem Schumannhaus und der Wohnung Mendelssohns in der heutigen Goldschmidtstraße 12 verbindet, verzeichnet 23 Stationen. Viele Stationen sind mit Namen verbunden, die Weltrang haben: Bach, Schumann, Wagner, Grieg. Nur Gustav Mahler fehlt. Doch kein Name ist mit so vielen anderen Stationen verbunden wie der Mendelssohns. Sein Name ist auf dieser Spur ein roter Faden. 

In Leipzig erst kam seine Universalität zum Vorschein, als Musiker, Komponist, Dirigent, als – heute würde man sagen Musikmanager und Musikvermittler. Als 26-Jähriger formte er ab 1835 das Gewandhausorchester als Kapellmeister und machte es zu einem der führenden Orchester der Musikwelt. Bis heute! Und er tat dabei viel für die Entdeckung neuer Werke anderer Komponisten ebenso wie für die Wiederaufführung der Musik vorangegangener Jahrhunderte. Er hat damit auch einen Grundzug für die Gestaltung des bürgerlichen Konzertlebens etabliert, wie er bis heute nachwirkt. Und er hatte die Idee und Chuzpe, dem sächsischen König die Gründung des ersten Konservatoriums in Deutschland abzutrotzen, das künftig auch die Musiker – damals waren es ja nur Männer – für das Gewandhausorchester in höchster Qualität ausbilden sollte. Dieses Prinzip wurde auch von anderen Orchestern in Dresden oder Berlin übernommen und hat zur Pflege und Bewahrung ihres besonderen Klangs beigetragen.

Felix Mendelssohn Bartholdy war also ein Mensch mit vielen Begabungen, ein Musiker tiefer humanistischer Bildung, der auf seinen Konzertreisen nach England, Schottland oder Italien gefeiert wurde und dessen Eindrücke von Landschaften und Menschen sich schließlich in seinen Werken widerspiegelten. Wie kann es also sein, dass ein so kreativer Kopf, eine so prägende Persönlichkeit nach ihrem Tod 1847 für fast einhundert Jahre aus dem deutschen Musikleben verschwand?

Man kann konstatieren, dass jede Zeit ihren Kunst- und Musikgeschmack entwickelt, sich Neues den Weg bahnt. Viele Komponisten waren vergessen und wurden erst in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt. Im Falle Mendelssohn aber muss man sagen, dass sein Schaffen nicht nur vergessen, sondern regelrecht ausradiert wurde. Carl Dahlhaus schrieb dazu 1972: „Die Musik Felix Mendelssohns ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde ermordet.“ Es gibt reichlich Anlass, diesen Mordverdacht ernst zu nehmen. 

Beleidigungen und Anfeindungen, die sich auf seine jüdische Herkunft bezogen, begleiteten Mendelssohn schon in Kindesjahren. Dass sich seine Familie für einen Übertritt zum Protestantismus entschieden hatte, beeindruckte seine antisemitischen Verfolger wenig. Zeitzeugen berichteten, dass schon seine Bewerbung um die Nachfolger Zelters an der Berliner Singakademie an seiner Herkunft scheiterte. 

Der mit dem 19. Jahrhundert aufkommende Nationalismus war wohl ein gesamteuropäisches Phänomen. Allerdings eines, dass eine spezifisch deutsche Zuspitzung erfuhr. Eine deutsche Nation oder einen deutschen Staat gab es zu Mendelssohns Zeiten nicht, dafür aber ein mit dem mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation begründetes nationales Überlegenheitsgefühl, das auch den Begriff der deutschen Kulturnation erfand. Die Musik allgemein, wie die Chormusik im Besonderen, waren dagegen nicht gefeit. Im Gegenteil. Angriffe auf Juden, assimiliert oder nicht, ebenso wie auf zum christlichen Glauben übergetretene Jüdinnen und Juden, gehörten dazu. 
Und zwar besonders dann, wenn sie, wie Mendelssohn, erfolgreich waren.

Viel geschrieben worden ist über das Verhältnis des nur vier Jahre jüngeren Richard Wagners zu Mendelssohn. Über die frühen Jahre dieser Beziehung kann man rätseln. Die Briefe, die Wagner Mendelssohn schrieb, lassen eher Bewunderung und Verehrung vermuten. Und ebenso bewunderte offenbar Felix Mendelssohn Bartholdy Richard Wagner. Wagners C-Dur-Sinfonie, nahm Mendelssohn schon 1836 in ein Abonnementskonzert auf, später auch Teile aus „Rienzi“ und schließlich, 1846, Wagners „Tannhäuser“-Ouvertüre. Allerdings brauchte Wagners Musik Zeit, sich beim Publikum durchzusetzen. Nach einigen Misserfolgen unterstellte Wagner Mendelssohn deshalb, er, Mendelssohn, wäre wegen seines Erfolgs als Opernkomponist eifersüchtig.

Wie tief tatsächlich der Neid Wagners auf Mendelssohn saß, kann man seiner Reaktion auf die Aufführung je eines Chorwerkes der beiden aus Anlass der Enthüllung eines Denkmals für den sächsischen König Friedrich August I. 1843 in Dresden entnehmen. Seinem Bruder Albert schrieb Wagner über das Ereignis: „Mein Gesang trug entschieden den Sieg davon, weil er einfach, erhebend und wirkungsvoll war, während der Mendelssohn'sche schwülstig und unwirksam herauskam“. 

Ihren lang nachwirkenden Höhepunkt fand die Verunglimpfung Mendelssohns durch Richard Wagner drei Jahre nach Mendelssohns Tod, 1847. Zunächst anonym veröffentlichte Wagner die Schrift über das „Judentum in der Musik“ unter dem Pseudonym K. Freigedank in der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Für seine Kernthese, Juden seien unfähig zur Produktion von Kunst, insbesondere von Musik, nahm Wagner vor allem Bezug auf Mendelssohn. Ich zitiere: „In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen“, so Wagner. Mendelssohn, dem er noch eine gewisse musikalische Begabung zugestand, konstatierte er „mangelnde Tiefe“ und „Kopieren“. Auch der verhängnisvolle Begriff der „Glätte“ kommt vor.

Die Veröffentlichung des Pamphlets führte 1850 immerhin zu einem Protest von 11 Professoren des Leipziger Konservatoriums gegen den Herausgeber Brendel. Es gab also immer wieder – das ist immerhin ein schwacher Trost – Menschen, die sich den antisemitischen Verunglimpfungen wiedersetzten. 1869 konnte Wagner seinen Namen aber ganz offiziell über die Neuveröffentlichung der Schrift setzen. Richard Wagner war nicht der einzige, der Künstler jüdischer Herkunft herabwürdigte, aber seine Prominenz verhalf seinen Einlassungen zu einer nicht zu unterschätzenden Wirkung. Dass sich Teile der Familie Wagner, allen voran Winifred Wagner und der Bayreuther Kreis, später vor den nationalsozialistischen Karren spannen ließen, tat ein Übriges. Der Virus des Antisemitismus wirkte. Die Vielfalt der Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy verschwand aus den Konzertsälen. Einige Chöre wurden noch gesungen, auch das Violinkonzert in d-Moll gehörte nach wie vor zu den beliebten Stücken. Und schließlich gab es da auch noch die zauberhafte Bühnenmusik zum „Sommernachtstraum“.

Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus aber durften Werke jüdischer Komponisten bald nur noch für jüdische Bürgerinnen und Bürger durch den jüdischen Kulturverein aufgeführt werden. Auch das Verhältnis der Bürger der Stadt Leipzig zu Mendelssohn hatte sich nach dessen Tod abgekühlt. Erst 1892 gelang es, ein Mendelssohn-Denkmal vor dem neuen Gewandhaus errichten zu können. Das NS-Regime ließ das Denkmal dann in einer Nacht- und Nebel-Aktion am 9. November 1936, zwei Jahre vor der Reichspogromnacht, beseitigen. Der Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, der sich einem Abriss zuvor mehrfach entgegengestellt hatte, trat aus Protest dagegen wenige Tage später von seinem Amt zurück. War mit dem Sturz des NS-Regimes auch das Verdikt gegen Felix Mendelssohn Bartholdy aufgehoben? Leider nein! Wie sollte es, wenn die meisten der lange das Wort führenden deutschen Musikwissenschaftler weiter in Amt und Würden blieben. 

Es hat mich wirklich erschüttert, dass die Vorbehalte gegen Mendelssohn sich noch lange aus dem Vokabular der NS-Zeit speisten, ja auch das Pamphlet Richard Wagners reproduzierten und ihm etwa „Die Geschichte der deutschen Musik“ noch 1954 attestierte, seine Werke kennzeichneten „Glätte“ und ein „Mangel an geistiger Tiefe“. Mich bewegt diese Geschichte, weil sie ein Modell erkennen lässt. Sie mahnt uns, gegen alle Formen der Herabwürdigung, und Diffamierung von Menschen und ihrer Kunst aus völkischem und antijüdischem Ressentiment vorzugehen. Denn es ist an uns, zu verhindern, dass Antisemitismus seine Wirkung entfalten kann. 

Als aufgeklärte Demokratin kann ich mich der ideologischen Vereinnahmung von Kunst widersetzen. Ich kann mich über Wagners Pamphlet empören, mich über seine völkischen Sujets und längst verblichene Walküren mit Schild und Rüstung amüsieren und dennoch Wagners Musik hören. Nicht seine Musik ist antisemitisch. Sie ist es so wenig, wie Mendelssohns Musik „glatt“ ist. Mendelssohns Rehabilitierung war dafür allerdings eine Voraussetzung.

In Leipzig, Mendelssohns Wirkungsstadt, begann sie erst als Kurt Masur 1970 Gewandhauskapellmeister wurde. Masur, der 1927 geboren wurde, berichtete einmal im Deutschlandfunk, dass ihm seine Klavierlehrerin in Breslau die Noten von Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ mitgebracht und gesagt habe: „so, schau dir das mal an, aber du musst die Fenster zumachen, weil die Musik verboten ist.“ Er erzählte, dass in seinem Umfeld die Musik von Mendelssohn-Bartholdy durchaus bekannt und geschätzt war, und man sich dann eben mit öffentlichen Äußerungen vorsah. Die Wiederentdeckung Mendelssohns – oder besser die Wiedergutmachung an der kulturellen Schande seiner Ächtung und Verunglimpfung, war vor allem diesen Künstlerinnen und Künstlern zu danken und in einer ganz besonderen Weise Kurt Masur. Bereits in den siebziger Jahren veranstaltete die Stadt Leipzig unter Mitwirkung des Gewandhausorchesters Mendelssohn-Festtage aus Anlass des 125. Todestages. Die später regelmäßigen Mendelssohn-Festtage des Orchesters waren über Leipzig hinaus eine Institution. Aber schon vorher, bei den „Gewandhaus-Festtagen“, in Abonnementkonzerten oder bei Gastspielen nahm Kurt Masur neben den Kompositionen von Beethoven und Brahms immer wieder die Werke von Mendelssohn ins Programm. Er wurde damit zu einem der wichtigsten und auch kompetentesten Motoren der Mendelssohn-Renaissance in Deutschland.

Ein Ziel war aber noch offen. Der Mann, der es möglich machte, dass die DDR bis 1981 den einzigen Konzertsaalneubau des Landes für das Gewandhausorchester finanzierte, hatte es bis zur Maueröffnung noch nicht geschafft, das ehemalige Wohnhaus des Komponisten, seine letzte und in der Substanz noch einzig erhaltene Wohnung zu sichern und als Ort der Erinnerung, der Forschung und Vermittlung auszubauen. Es war ohnehin ein Wunder, dass dieses Haus, das nur wenige hundert Meter vom Augustusplatz in der heutigen Goldschmidtstraße 12 steht, den Krieg und die abrissfreudige Zeit der DDR überlebt hat. Kurt Masur gründete 1991 die internationale Mendelssohn Stiftung, die es schaffte, die Mittel für den Erwerb zusammenzubringen und das Haus zu erhalten. Das sagt sich so einfach, aber das bedeutet, dass der Dirigent seine Anerkennung, seinen Einfluss und seine ganz persönliche Ansprache weltweit dafür nutzte, die Gelder zusammenzubringen. Der Titel eines „Retters“ gebührt ihm im hohen Maße, doch es waren noch viele andere beteiligt, die hier in Leipzig ein außergewöhnliches Engagement entwickelt haben. 1997 konnte das Museum dann übergeben werden. Heute ist es eines der attraktivsten und modernsten Musiker-Museen Deutschlands und wohl das einzige mit einem so umfangreichen und regelmäßigen Konzertprogramm.

Das heutige Jubiläum zum 25-jährigen Bestehen – wenige Tage vor Mendelssohns 175. Todestag – ist deshalb auch ein Anlass, an den unvergessenen Kurt Masur zu denken und ihm, seiner Familie und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern Dank zu sagen. Großer Dank gebührt auch dem Gründungsdirektor Jürgen Ernst, der unermüdlich um Fördermittel kämpfte. Ein Dank aber auch an die Stadt Leipzig, vor allem ihrem so kulturaffinen Bürgermeister Burkhard Jung und seinen Stadträten und Stadträtinnen, die wissen, welchen Stellenwert Felix Mendelssohn Bartholdy in der Musikgeschichte einnimmt und was ihm die Stadt Leipzig verdankt. Und nicht zuletzt möchte ich auch den Gremien der Mendelssohn Stiftung unter ihrer Präsidentin Elena Bashkirova herzlichen Dank sagen, weil Ihre Mitwirkung der Arbeit noch einmal ein ganz besonderes Gewicht gibt.

Heute steht – nicht am alten Ort, aber nahe dem Westportal der Thomaskirche und nahe dem vom Komponisten gespendeten Bachdenkmal – eine Kopie des einstigen Mendelssohn-Denkmals. Möge es unseren nachfolgenden Generationen seine Geschichte, unsere Geschichte des Umgangs mit einem ganz großen deutschen Meister erzählen. Dafür ist auch das Mendelssohn-Haus der richtige Ort und ich wünsche dem Haus unter seinem Direktor Patrick Schmeing Glück, Erfolg und einen nie nachlassenden Besucherstrom. Ein Haus, das uns glücklich macht.

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