Seit dem 7. Oktober stellen wir einen besorgniserregenden Anstieg von Antisemitismus in unserem Land fest. Dies muss auch Auswirkungen auf die Erinnerungspolitik haben. Was müssen wir ändern, um die Erinnerung an die Shoah zu einem wirksamen Ausgangspunkt im Kampf gegen den Antisemitismus zu machen? Zu den Herausforderungen zählt aber auch die propagandistische Geschichtspolitik, die Russland seit langem betreibt und mit der sie die Spaltung des europäischen Erinnerns und letztlich Europas betreibt.
Die Generation der Zeitzeugen verlässt uns. Ihre Stimmen, ihr Engagement, ihre Lebensgeschichten werden fehlen. Unsere Aufgabe ist es, neue Wege und Möglichkeiten zu finden und zu fördern. Das gilt auch für die Tätergeneration, die viel zu lange geschwiegen hat und deren Schweigen nicht zu einem Vergessen führen darf.
Traumata der Eingewanderten
Schließlich stellt uns die Digitalisierung vor neue Herausforderungen und eröffnet auch neue Möglichkeiten, wie gerade jüngere Zielgruppen mit lebendigem Erinnern erreicht werden können. Vor allem aber gilt es, eine Erinnerungspolitik für die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten.
Erinnerungspolitik in einer Einwanderungsgesellschaft bedeutet auch, die Augen zu öffnen für die Traumata, die viele Eingewanderte in ihren Herkunftsländern, auf dem Weg nach Deutschland oder hier erfahren haben – angefangen mit dem Kolonialismus bis hin zu Erfahrungen von Rassismus und Ausgrenzung in Deutschland.
Eine Erinnerung in die Zukunft ist eine Erinnerung, in der sich die gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit, ihre Gefährdungen wie Hoffnungen widerspiegeln. Dazu legen wir nun einen Konzeptentwurf vor, um ihn in einem breiten Diskussionsprozess fertigzustellen.
Der systematische, auf völlige Vernichtung abzielende Völkermord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden hat in der deutschen, europäischen und weltweiten Erinnerungskultur einzigartige Bedeutung. Zentrale erinnerungskulturelle Bedeutung haben zudem die Verbrechen im Rahmen des rassistischen Vernichtungskrieges im östlichen Europa, wie die Aushungerungspolitik, der Mord an Kriegsgefangenen und die Versklavung von Zwangsarbeitenden.
Allen Opfer des Nationalsozialismus gilt unser fortdauerndes Erinnern. Die systematische Ermordung von Sinti und Roma und von Menschen mit Behinderungen, die Stigmatisierung und Entrechtung der wegen ihrer sexueller Orientierung und ihrer religiösen und politischen Überzeugungen verfolgten Menschen dürfen ebenso wenig vergessen werden wie jene, die als „asozial“ verfolgt wurden.
Das Menschheitsverbrechen des Holocaust bleibt Kern und Ausgangspunkt der Erinnerungskultur in Deutschland. Zentrale Bedeutung haben dabei die Gedenkstätten, die wir weiter mit erheblichen Mitteln fördern und entwickeln wollen.
Ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur des wiedervereinten Deutschlands ist seit 1990 auch die kommunistische Diktatur in der SBZ und der DDR, die Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht und der Repression durch die Staatssicherheit, unter denen die Menschen in Ostdeutschland jahrzehntelang zu leiden hatten. Umso mehr in einer Zeit, in der wir es erneut mit Demokratiefeinden und Rechtstaatsverächtern zu tun haben und in der weltweit ein System-Wettbewerb zwischen autoritären Systemen wie Russland und China und demokratischen Gesellschaftsmodellen entbrannt ist.
Gedenkstätten sind zentral
Dies ist verbunden mit der tiefen Überzeugung, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Erinnerung an ihre Opfer niemals zu einer Relativierung der NS-Verbrechen führen darf. Auf diesem Fundament bauen wir auf, indem wir nun auch den Unrechtszusammenhang des Kolonialismus, verschiedene Aspekte der Einwanderungsgesellschaft und die wechselvolle deutsche Demokratiegeschichte stärker als bisher in der Erinnerungskultur unseres Landes sichtbar machen wollen.
In der Erinnerungskultur vergewissert sich eine Gesellschaft ihrer Identität und ihres Selbstverständnisses, die beide Feld politischer Diskussionen und damit streit- und wandelbar sind. Erinnerungskultur kann ihre zukunftsgestaltende Kraft nur entfalten, wenn sie nicht nur als Mahnung, sondern auch als gesellschaftlicher Auftrag verstanden wird. Das gilt es zu diskutieren im gegenseitigen Respekt, im Wissen um die damit verbundenen Traumata – und mit dem Willen zu einer gemeinsamen Gestaltung unserer Demokratie. Zu unserer Geschichte gehören aber auch antisemitische und rassistische Anschläge der vergangenen Jahre, Tage und Wochen. Der Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim in München 1970, die Anschläge von Mölln und Solingen, die Mordserie des NSU wie auch die Anschläge beim Olympiazentrum in München, in Halle und in Hanau oder die Hetze und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in unserem Land seit dem 7. Oktober.
Rassistische Anschläge
Neben der Erinnerung an die Verbrechen sollte die Emanzipationsgeschichte unserer Demokratie und demokratischer Gesellschaften insgesamt stärker thematisiert werden: der Kampf für Freiheit, demokratische Teilhabe und die Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte. Wichtiger Bestandteil einer lebendigen Erinnerungskultur ist das bislang unterbelichtete Thema der emanzipatorischen Fortschritte – vom Frauenwahlrecht bis hin zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts.
Eine moderne Erinnerungskultur in unserer Einwanderungsgesellschaft bietet die Chance für ein gemeinsames historisches Verständnis und weist Wege zur Integration. Wenn verschiedene Traumata aufeinanderprallen, sind das schmerzhafte Prozesse, die Mut und Respekt erfordern. Dann können sich aus Diskussionen zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Wissenschaft und Kultur fruchtbare Ansätze für neue Formen des Erinnerns entwickeln, in denen sich die gesamte Gesellschaft wiederfindet.
Denn die Frage, welche Stimmen, welche Geschichten und Bilder in die Erinnerungspolitik aufgenommen werden, legt die Grundlage für einen politisch respektvollen Umgang mit der Diversität unserer Gesellschaft. In Zeiten von aufflammendem Nationalismus geht es aber auch um die Erinnerung an Europas Zukunft. Während die deutsch-französische Aussöhnung mittlerweile in den Kanon der Erinnerungskultur aufgenommen ist, muss mit Blick auf Polen, aber auch andere Länder Mittel- und Osteuropas noch viel an Erinnerungsarbeit geleistet werden.
Wichtige Schritte dazu sind auf Bundesebene die Vorhaben „Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ und „Deutsch-Polnisches Haus“, die die europäische Dimension des Erinnerns noch intensiver mit Leben erfüllen werden.
Historisches Verständnis
Die Dimensionen der Erinnerungskultur reichen weit über Europa hinaus. Dies gilt besonders für ein Land, das sich als ein Einwanderungsland versteht. Es ist das Ziel, über die verstärkte Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte und mit der deutschen Einwanderungsgeschichte gemeinsame Zukunftsvorstellungen mit unseren Partnern insbesondere in Afrika und in anderen Ländern des Globalen Südens zu entwickeln. Das wichtige Vorhaben eines Lern- und Erinnerungsortes an den Kolonialismus wird insbesondere diese Dimension mit zu berücksichtigen haben.
Für ein respektvolles Zusammenleben hat ein offener Dialog über verbindende und auch trennende Erinnerungskulturen große Bedeutung. Basis dafür ist der universelle und für unsere Gesellschaft grundlegende Wert der Würde eines jeden Menschen sowie das Bekenntnis unserer Gesellschaft zur Demokratie und zur historischen Verantwortung unseres Landes.
Es geht darum, aus den verschiedenen Erfahrungen, Perspektiven und historischen Erinnerungen heraus ein gemeinsames Erinnern möglich zu machen und damit die demokratische Kultur in Deutschland nachhaltig zu stärken.